Eine Architekturgeschichte der Armut
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Armut ist ein aktuelles, globales Phänomen, das nahezu alle Gesellschaften weltweit beschäftigt. Neue, traurige Brisanz erhält das Thema der Bedürftigkeit gegenwärtig durch das Leid der Flüchtenden aus Syrien und anderen Krisengebieten der Welt, das Europa erschüttert und die Ratlosigkeit der Politik angesichts der immensen Anzahl an Menschen in Not offenbart.
Armut existierte allerdings zu jeder Zeit, doch hängt sie in ihrer Ausprägung und Definition stets eng mit dem jeweiligen Ort, dem jeweiligen zeitlichen Kontext und den jeweiligen herrschenden politischen Umständen zusammen. Dabei war und ist Armut stets nicht nur ein persönliches Problem, sondern das gesamter Gesellschaften, da Armut immer auch die Werte und Schwächen einer kommunalen oder staatlichen Ordnung reflektiert. Doch variiert die Wahrnehmung und Definition von Armut nach wie vor stark: So kann beispielsweise die Nichtteilhabe an der Gesellschaft und ihren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Prozessen als Armutskriterium in Industriestaaten gelten, während eine unzureichende materielle oder hygienische Versorgung sowie Obdachlosigkeit weltweit klassische Indikatoren für Armut sind.
Ziel des Forschungs- und Habilitationsprojekts am D-ARCH ist es, erstmals ein Überblickswerk zur europäisch fundierten Architektur der Fürsorge zu verfassen. Das Projekt spürt den Anfängen einer Architektur für Bedürftige nach, beschreibt deren historischen Werdegang in mannigfaltiger Form und Ausprägung und fragt nach möglichen Architekturtypologien in Europa.
Neben der direkten Gabe von Geld- und Sachleistungen ist die obrigkeitliche Bereitstellung von Behausungen integraler Teil der Fürsorge. Diese Einrichtungen der Fürsorge und damit – von der anderen Seite aus betrachtet – der Armut und Not sind vielfältig: Kinderheime, früher Waisenhäuser genannt, Krankenhäuser, Alten- und Pflegeheime, Frauenhäuser und Asylunterkünfte gelten heute als Orte der Für- und Versorgung.
Blickt man auf die Geschichte, kommen noch zahllose Einrichtungen hinzu wie Xenodochien, Pilgerheime, Armenhäuser, Spitäler, Leprosenheime, Siechen- und Pesthäuser, Bruderschaften oder Irrenanstalten. Es gilt die wechselvolle Genese einer Architektur der Armut seit dem Spätmittelalter bis zur Gründung der Nationalstaaten im 19. Jahrhundert und der damit verbundenen Institutionalisierung der Fürsorge und der Entwicklung des sozialen Wohnungsbaus aufzuzeigen, zu analysieren und vor dem Hintergrund der einschneidenden geistesgeschichtlichen, sozialen und politischen Brüche und Umbrüche der europäischen Geschichte zu diskutieren. Der Untersuchungsrahmen ist dabei bewusst weit gesteckt, da es die Intention des Projekts ist, diese Entwicklungen in einer „longue durée“ darzustellen und so die grossen Linien einer vielfältigen Entwicklung der Bauten für Arme heraus zu präparieren. Bewusst ausgespart wird die Architektur der freiwilligen Bedürfnislosigkeit, also jene der grossen Bettelorden seit dem 13. Jahrhundert, und die informelle Architektur der Bedürftigen selbst, die wenig dokumentiert und vielmehr ein Ausdruck von Mangel ist, als ein Reflektor gesellschaftlicher Prozesse.
An Hand von Initialbauten und aussagekräftigen Beispielen möchte das Forschungs- und Habilitationsprojekt die Entwicklungsgeschichte der Fürsorgearchitektur in Europa erstmals analysieren und kontextualisieren. Insbesondere die typologischen Umbruchsmomente werden in einer vergleichenden Architekturanalyse unter zu Hilfenahme von Analysemethoden aus der Raumsoziologie genau diskutiert und so ein wichtiger Beitrag zur aktuellen Debatte um Armut, Bedürftigkeit und Architektur geleistet.
Dr. Britta Hentschel, Institut gta, Forschungs- und Habilitationsprojekt