Eine digitale Edition präsentiert Gottfried Sempers Schrift «Der Stil» erstmals in einer kritischen Fassung
Auf einer Website können Interessierte das theoretische Hauptwerk des Architekten differenziert untersuchen. 2025 startet das SNF-Forschungsprojekt in die dritte Phase.
Aufnahme der Schrift aus dem gta Archiv der ETH Zürich.
Gottfried Sempers Schrift «Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten» erschien 1860/63 und gehört auch nach über 150 Jahren zu den einflussreichsten Publikationen der Architekturgeschichte. Der Architekt und erste Architekturprofessor an der ETH Zürich untersuchte darin, wie Material, Technik und Funktion die Form und den Stil in der Architektur und den angewandten Künsten prägen. Eine digitale Edition präsentiert sein theoretisches Hauptwerk erstmals in einer kritischen Fassung.
Das Forschungsprojekt des Schweizerischen Nationalfonds ist eine Zusammenarbeit der Professuren von Philip Ursprung an der ETH Zürich und von Sonja Hildebrand an der Università della Svizzera italiana (USI) in Mendrisio. Es bietet eine kommentierte Edition der verschiedenen Druckausgaben des «Stil» und der zugehörigen Manuskripte in digitaler Form. «Erstmals wird das umfangreiche Text- und Bildmaterial in seiner Gesamtheit wissenschaftlich nachprüfbar zugänglich gemacht», erklärt Michael Gnehm, der das Forschungsprojekt von 2017 bis 2023 geleitet hat. Entwürfe, Arbeitsabschriften und Druckfahnen – grösstenteils aus dem gta Archiv der ETH Zürich – werden textkritisch transkribiert und mit den Druckausgaben vergleichend dargestellt.
Im Workspace können Faksimile, Transkript oder Lesefassung verglichen werden.
Ein Index erschliesst das Werk.
Mit der Suche kann «Der Stil» präzise durchleuchtet werden.
Das Projekt ist unter externe Seite semper-edition.ch in einer ersten Version online verfügbar. Auf der Website können Interessierte Manuskript und Digitalisat vergleichen, Änderungen oder Streichungen nachvollziehen und mit einer Volltextsuche Sempers Werk durchstöbern. Die digitale Aufbereitung hilft, besser zu verstehen, wie das Werk über 25 Jahre hinweg entstanden ist und sich verändert hat. Manchmal hat ein Kopist einen Fehler gemacht. Oder Semper selbst hat noch auf den Druckfahnen Korrekturen angebracht.
«Tausend Fäden verknüpfen die zeitgenössische Architektur mit der Vergangenheit», sagt Michael Gnehm, der einst zu Sempers Architektur und Sprache promoviert hat. «Sein Werk bietet interessante theoretische Überlegungen für das heutige Schaffen, weil es bis in die Anfänge der Architektur zurückgeht.» Die digitale Edition erlaubt, den Architekten differenzierter zu betrachten. Kritische philologische Anmerkungen ermöglichen, die Entstehung seines Denkens besser nachzuvollziehen. Bislang rund 1200 Kommentare ordnen zudem Personen, Orte oder Begriffe ein. «Semper war ein Mensch des 19. Jahrhunderts, das vom Kolonialismus und Imperialismus geprägt war», so Michael Gnehm. «Unsere Edition porträtiert nicht einen Helden, sondern betont die Bezüge zwischen Sempers architekturtheoretischer Position und der Architekturpraxis.»
Die vier Teile der digitalen Edition
Der Stil
Kunstformenlehre
Vergleichende Baulehre
Vorlesungen
Die Diversität des Materials erforderte eine digitale Open-Access-Präsentation. Die Website präsentiert komplexe Textstufen in zwei Fenstern nebeneinander, so dass das konzeptuelle Universum Sempers erfahrbar wird. Dazu wurde eine Graphdatenbank aufgebaut, die die Datensätze miteinander in Beziehung setzt und sie zu externen Materialien und Datenbanken verlinkt. Die Manuskripte und handschriftlichen Notizen wurden grösstenteils manuell und zum Teil automatisch mit der Software der Plattform Transkribus transkribiert, die historische Dokumente mit künstlicher Intelligenz analysiert.
Das SNF-Forschungsprojekt ist in drei Phasen aufgeteilt. Die Finanzierung über 1.25 Millionen Franken für die dritte Phase wurde im Oktober 2024 bewilligt. Sie wird die Funktionen der Website weiter ausbauen und Sempers Manuskript «Vergleichende Baulehre» sowie seine in studentischen Nachschriften erhaltenen Vorlesungen digitalisieren, die er an der ETH Zürich hielt. «Semper hatte ein perfektes Sprachgefühl, arbeitete aber oft mit langen Sätzen», sagt Michael Gnehm. «Die Abschriften seiner Vorträge, die Studierende damals gemacht haben, sind oft leichter verständlich als seine Texte.» Die digitale Edition macht Semper zugänglicher – und erhält sein Werk für die Nachwelt.
Gottfried Semper: Der Stil. Kritische und kommentierte Ausgabe SNF-Forschungsprojekt in drei Phasen (externe Seite Teil 1 2017-2020, externe Seite Teil 2 2021-2024, externe Seite Teil 3 2025–2028) Antragsteller SNF: Philip Ursprung (ETH), Maarten Delbeke (ETH), Sonja Hildebrand (USI)
Projektleitung: Teil 1 + 2: Michael Gnehm (USI/ETH) (bis Dezember 2023) Teil 2 ab 2021 Co-Projektleitung Informatikaspekte: Elena Chestnova (USI) Teil 2 ab 2024 Elena Chestnova (USI)
Wissenschaftliche Mitarbeit Teil 3: Elena Chestnova (USI): Projektleitung Dieter Weidmann (USI): Transkription und Kommentierung Bernhard Metz (USI): Transkription Raphael Germann (USI): Transkription
Grafik Editionsseite: Reinhard Schmidt und Nadine Wüthrich
Datenbank und Codierung Editionsseite: Scientific IT Services (SIS), ETH Zürich: Swen Vermeuil