Die konstruktive Vielfalt der Holzdachwerke aus dem 19. Jahrhundert

In ihrem Doktorat hat die Architektin Kylie Russnaik Dächer von Bahnhofshallen, Reithallen oder Theatern in der Schweiz analysiert. Ihre Erkenntnisse helfen, die weitgespannten Holztragwerke besser zu verstehen und zu erhalten.

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Das 19. Jahrhundert war eine Epoche des Umbruchs, angetrieben von der Dampflokomotive und anderen technischen Neuerungen. Dieser Wandel wirkte sich auch auf die Architektur aus. "Die Innovationslust im 19. Jahrhundert war gross", sagt Kylie Russnaik. "Man hat mit jahrhundertealter Bautradition gebrochen und Neues ausprobiert." Die gelernte Architektin hat an der Professur von Stefan Holzer ein Doktorat abgeschlossen, in dem sie die Entwicklung von Holzdachstühlen in der Schweiz im 19. Jahrhundert untersucht hat. Und dabei eine erstaunliche Vielfalt an Konstruktionen entdeckt.

Das Doktorat ist Teil des SNF-Forschungsprojekts zur "Entwicklung des weitgespannten Holzdaches in der Nord- und Zentralschweiz 1600–1850". Anders als etwa Fassaden oder Innenräume, deren Stil und Nutzung sich häufig ändern, sind Dächer oft in ihrem ursprünglichen Zustand mit einer sichtbaren Konstruktion und erkennbaren Reparaturen erhalten. "Sie bieten daher einzigartige Einblicke in die Baugeschichte eines Gebäudes", sagt Kylie Russnaik. Darüber hinaus seien weitgespannte Dächer besonders interessant, da sie herausfordernd waren zu bauen und den Stand der Bautechnik widerspiegeln.

Während 400 Jahren wurde die Konstruktion des Sparrendaches mit dem sogenannten "Liegenden Stuhl" für grösserer Spannweiten eingesetzt. "Das 19. Jahrhundert markiert eine Zeit des Übergangs und eine Abkehr von dieser traditionellen Bauweise", so Russnaik. Die technologische Innovation ging allmählich vom Kirchendach zum Profanbau über. Neue Bautypen entstanden mit grossen stützenfreien Hallen und sichtbaren Dachstrukturen, etwa für Bahnhöfe oder Reithallen. Zudem brachte die aufkommende klassizistische Architektur neue Formen mit sich, insbesondere flachere Dachneigungen, wie etwa den weitgespannten halbkonischen Dächern der neu entstehenden Ratssäle. Das mediterrane Pfettendach erwies sich als besser für diese Dachformen geeignet.

In der Schweiz gibt es – aufgrund der ausgebliebenen Kriegszerstörungen – einen einzigartigen Bestand an intakten Holztragwerken aus der Epoche, die bisher aus konstruktiver Perspektive wenig erforscht waren. Kylie Russnaik hat in ihrer Forschungsarbeit 54 Bauten von Genf bis Herisau systematisch dokumentiert und analysiert, die wichtigsten Entwicklungen in der Konstruktionstechnik ausgemacht und die Evolution vom traditionellen Zimmerhandwerk zum modernen Holzingenieurbau nachvollzogen.

Im Unterschied zu Kirchen sind die untersuchten Hallenbauten oft nicht gut dokumentiert und publiziert. "Die Recherche war entsprechend aufwändig", sagt Russnaik. Die Architektin durchforstete militärische Inventare, kontaktierte kantonale Denkmalpflegen und fragte bei den SBB nach. Sie hat die Bauten vor Ort untersucht, die Tragstruktur mit einem 3D-Laserscanner vermessen und die Verbindungsdetails von Hand dokumentiert. In ihrer Arbeit hat die Doktorandin die Hallen nach Bautypen gegliedert und Rathäuser, Theater, Reithallen, Bahnhallen und Zweckbauten unterschieden. "Die Funktion beeinflusst die Konstruktion", sagt Russnaik. Reithallen kommen ohne Estrich aus, Bahnhallen müssen die Ventilation gewährleisten, Theater brauchen viel Raum für die Bühnentechnik.

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Übersicht der untersuchten Holzdachwerke
Fotos von offenen Dachwerken

Einfluss aus Europa

Da es in der Schweiz vor der Gründung der ETH Zürich 1855 noch keine akademischen Ausbildungsstätten für Architekten oder Ingenieure gab, bildeten sich die gelernten Zimmermänner oder Baumeister in Deutschland oder Frankreich weiter. So brachten sie aus Europa neues Fachwissen in die Schweiz. Der deutsche Architekt Friedrich Weinbrenner spielte bei der Ausbildung vieler dieser Architekten eine wichtige Rolle. Zudem führten vermehrte Publikationen in Bauzeitschriften und Zimmermannstraktate zu einer schnelleren Verbreitung neuer Bautechniken.

Obwohl neuere Materialien wie Eisen oder armierter Beton aufkamen, blieb Holz in der Schweiz ein weitverbreitetes Material. Ausserdem führte der rasche technologische Fortschritt in der Holz- und Eisenverarbeitung zu einer grossen Vielfalt neuer konstruktiver Details. "Mich hat überrascht, wie viele Konstruktionsarten es gab", sagt Russnaik. In ihrer Forschung ordnete sie die Dächer in einer historischen Abfolge ein, angefangen bei den ältesten Konstruktionen mit "Liegendem Stuhl" über mediterrane Pfettendächer bis hin zu Leimbindern für "Hetzer-Träger" Anfang des 20. Jahrhunderts.

Ab Mitte des 19. Jahrhundert haben die Architekten und Ingenieure die Materialien oft kombiniert und Holzbalken für die Drucklasten und Biegung sowie Eisenstangen für die Zugkräfte eingesetzt. Solche Dachkonstruktionen wurden wegen der effizienten Montage und der geringen Kosten bevorzugt. Die Entwicklung der Bautechnik im 19. Jahrhundert geht also einher mit einer Rationalisierung von Material, Zeit und Geld. Der Beruf verlagerte sich vom traditionellen Zimmerhandwerk hin zu technischen Prinzipien, die die mechanischen Eigenschaften der Materialien berücksichtigten.

Viele der untersuchten Bauten sind öffentlich nicht zugänglich. Besuchen kann man unter anderem die ehemalige Einstiegshallen der SCB beim Letziturm in Zürich oder in Bauma, welche ursprünglich am Centralbahnhof Basel standen. Die meisten der Hallen werden heute jedoch anders genutzt als ursprünglich, etwa als Lagerräume oder Mehrzweckhallen. Viele dieser wichtigen Zeitzeugnisse sind gefährdet. "Manche der Gebäude wurden gar während der Recherche abgebrochen", sagt Russnaik. Die Architektin will mit ihrer Arbeit die Aufmerksamkeit für die Bauten wecken und die Fachwelt sensibilisieren. Ihre Erkenntnisse helfen, die Baupraxis besser zu verstehen und Kriterien für den Erhalt zu definieren.

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