«Wir möchten im Entwurf eine Intuition für Klimafragen aufbauen»
Arno Schlüters Professur zeigt in der Ausstellung "Energie & Architektur" im Deutschen Architekturmuseum Projekte von Studierenden. Im Interview erklärt er die Chancen und Schwierigkeiten des klimagerechten Entwerfens.

Deine Professur leitet seit einigen Jahren unter dem Titel «Design for Climate» Entwurfsstudios, in denen ihr die Grundsätze der energiebewussten und klimagerechten Architektur vermittelt. Was ist die grösste Herausforderung beim klimaoptimierten Entwerfen?

Arno Schlüter: Architektur ist eine vielschichtige Aufgabe, die Geschichte, Städtebau, Gesellschaft bis zur Konstruktion vereint. Nun müssen wir auch noch die Aspekte des Klimas reinbringen. Das erhöht die Komplexität. Die Herausforderung ist, die verschiedene Ebenen zusammenzubringen und in ein Thema umzuwandeln, das den Entwurf produktiv beeinflussen oder sogar bestimmen kann. Das fällt den Studierenden nicht leicht. Sie müssen Schwerpunkte setzen, Dinge auszuklammern und Synergien suchen.
Wie bringt ihr diese Komplexität auf den Boden, sodass sie die Studierenden nicht überfordern?
Klima in der Architektur hat zwei Bedeutungsebenen. Global gesehen ist es eine Tatsache, dass unsere Gebäude wesentlich klimafreundlicher werden müssen. Lokal spielen klimatische Eigenschaften wie Sonne, Wind und Temperaturen eine grosse Rolle, sowohl für die globale Klimafreundlichkeit wie auch für die Bewohner und den Energiebedarf. Beide Ebenen haben eine numerische Komponente. Es braucht Werkzeuge, um die quantitativen Informationen zu analysieren, zu visualisieren und in den Entwurf zu übersetzen. Wir versuchen dies auf verschiedene Arten greifbar zu machen.
Was heisst das konkret?
Zu Beginn soll jeder die Frage von Energie und Klima persönlich beantworten. Was ist mein Bezug dazu? Wie viel Energie verwende ich, was ist mir wichtig? Im Studio sind die Studierenden mit Messgeräten losgezogen und haben auf der Baustelle und im Quartier die lokalen klimatischen Eigenschaften wie Temperatur, solare Einstrahlung oder Luftfeuchtigkeit gemessen. Später nutzen sie Tools, die leicht zu erlernen sind und die helfen, diese Beobachtungen in das Konzept und den Entwurf einfliessen zu lassen.
«Wenn man das Thema ernst nimmt, drehen sich die Dinge auf den Kopf und die Architektur verändert sich radikal.»Arno Schlüter
Es geht um Ökobilanzdaten, graue Energie, CO2-Werte. Wie überführt ihr die Zahlen in Architektur, ohne dass diese Überhand nehmen?
Es gibt eine grosse Furcht, dass daraus am Ende eine Excelschieberei wird. Aber das ist nicht das Ziel. Die Studierenden sollen dank der Zahlen verstehen, wie die Mechanik dahinter funktioniert. Welchen Effekt zum Beispiel eine Veränderung der Ausrichtung, Gebäudeform, Öffnungsflächen oder des Materials hat. Das ist viel verlangt, das braucht Erfahrung. Wenn man das aber oft genug gemacht hat, so hoffen wir, braucht man ein Tool vielleicht nicht mehr, weil man die Faustregeln kennt. Man entwickelt eine Intuition, ähnlich wie bei der Tragstruktur. Ein Architekturstudent oder eine Architekturstudentin berechnet diese meist nicht im Detail, weiss aber zum Beispiel wie dick eine Decke ungefähr ist. Analog dazu möchten wir eine Intuition für Klimafragen aufbauen.
Was bedeutet das klimagerechte Bauen für die Architektur? Wie verändert sie sich?
Das ist eine spannende Frage, deren Antwort wir bisher nur erahnen können. Man sieht derzeit zwei Haltungen. Die eine zielt darauf ab, "schlechte" Baustoffe durch "gute" zu ersetzen, also zum Beispiel Beton durch Holz. Der Entwurf bleibt dabei konventionell. Wenn man das Thema aber ernst nimmt, drehen sich die Dinge auf den Kopf und die Architektur verändert sich radikal. Die Gebäude sehen anders aus, funktionieren anders, sind anders materialisiert. Diese Architektur passt nicht in das klassische Schema und zu unseren Sehgewohnheiten.
Wohin die Reise geht, ist also noch offen.
Im Moment wird meistens herkömmlich gebaut, aber ein bisschen besser: Solarpanels aufs Dach und ein anderer Baustoff. Das klimagerechte Bauen hat jedoch das Potential, die Architektur neu zu definieren. Da fehlen uns Ausdrucksformen und Erfahrungswerte. An Schlusskritiken fällt es den Gästen oft nicht leicht, die Entwürfe zu beurteilen, weil ihnen die Referenzwerte fehlen. Ist das gut oder schlecht? Ist das architektonisch gelungen oder nicht? Denn die Architektur kann schon ganz anders aussehen.
«Ich hoffe, dass das Thema nicht wie in der Vergangenheit an Spezialisten ausgelagert wird und man einfach einen Klimaberater hinzuzieht.»Arno Schlüter
Kannst du ein Beispiel geben?
Wenn ich mit biobasierten Baustoffen bauen, Solarpaneele in die Verschattungselemente integriere oder das Gebäude und seine Räume konsequent nach dem lokalen Klima ausrichte, beeinflusst dies die Architektur. Wenn ich ein Gebäude weiterbaue oder Bauelemente wiederverwende, kehrt sich die Logik des Entwurfs um, ich arrangiere das Bestehende. Wie mache ich aus 40 wiederverwendeten Fenstern eine Fassade? Das ist eine andere Herausforderung, die erst einmal ungewohnt ist.
Meist wird nach wie vor konventionell gebaut. Wie kann man Architekturschaffende oder Bauherrschaften für das Thema begeistern?
Bauherren entdecken die ökologische Verantwortung zusehends. Die Architektinnen und Architekten sind gefragt, Lösungen vorzuschlagen, sich und ihre Bauherren weiterzubilden und zu inspirieren. Ich hoffe, dass das Thema nicht wie in der Vergangenheit an Spezialisten ausgelagert wird und man einfach einen Klimaberater hinzuzieht. Ich finde, es gibt ein Riesenpotenzial für die Architektur. Wir stehen vor dieser weissen Landkarte und es gibt viel zu entdecken. Das ist ein spannender Moment im Bauen.
Das Ziel ist Netto-Null. Das Bauen ist davon noch weit entfernt. Wann wird die Architektur klimaneutral sein?
Ich finde den Netto-Null Begriff schwierig, weil er sehr von der Bilanzierung abhängt und zu Aussagen verführt, die bei genauer Betrachtung oft nicht haltbar sind. Die Bauwirtschaft ist nach wie vor auf viel Ressourcen angewiesen, die nicht aus erneuerbaren Quellen stammt. Wir müssen das CO2 so radikal wie möglich reduzieren. Wirklich Netto-Null können wir nur erreichen, wenn wir CO2 dauerhaft kompensieren – etwa durch CO2-negative Materialien. Aber das ist ökonomisch und technisch noch ein gewisser Weg.
«Ich finde den Netto-Null Begriff schwierig, weil er sehr von der Bilanzierung abhängt und zu Aussagen verführt, die bei genauer Betrachtung oft nicht haltbar sind.»Arno Schlüter
Welche Rolle können CO2-negativen Materialien spielen?
Wir haben diese Frage im Rahmen des ETH-Projekts "SPEED2ZERO" mit Forschenden der ETH und der EMPA untersucht. Wenn ein Material in der Produktion mehr CO2 aufnimmt als emittiert, wie etwa Biokohle, die für Dämmung oder Ziegelsteine verwendet werden kann, wird es plötzlich interessant, mehr von diesem Material zu verwenden. Dann hängt es unter anderem von der Sanierungsrate ab, wie viel Emissionen auf diese Weise in den Gebäuden gespeichert werden können. Allerdings decken solche Materialien bisher nur einen Bruchteil der gesamten Baumaterialien ab, zum Beispiel für die Isolation oder das Tragwerk. Von Netto-Null oder sogar einem CO2-negativen Gebäude, wie es manchmal angepriesen wird, sind wir, bei einer realistischen Bilanzierung, oft weit entfernt.
Die Landkarte ist an vielen Stellen noch weiss. Welche Rolle spielt die Forschung, um die Wege vorzuzeichnen?
Wir können heute ein Gebäude nahezu CO2 frei betreiben und es gibt bereits interessante biobasierte Baumaterialien. In der Forschung geht es darum, zu verstehen, wie das Gesamtsystem funktionieren könnte. Was brauchen wir wirklich? Welche Rolle spielen Mensch und Komfort? Wie kann man Wärme oder Strom aus der Umgebung in ein Gebäude integrieren und mit einfachen Speichern kombinieren? Auch bei den Rahmenbedingungen muss noch viel erforscht werden, etwa zu Geschäftsmodellen oder zur gesellschaftlichen Akzeptanz.
Damit wird die Komplexität nochmals erhöht. Ist das nicht eine Überforderung für alle?
Wir müssen auch daran arbeiten, wie es wieder ‘einfacher’ werden kann. Hier kann Forschung einen Beitrag leisten und die verschiedenen Effekte und Wechselwirkungen aufzeigen. Die Komplexität erscheint uns als eine grosse Wolke. Aber dahinter gibt es Abhängigkeiten, die man sichtbar machen kann. So kann man aufzeigen, welche Lösungen gut und robust sind.
Architektur und Energie
Im Deutschen Architekturmuseum läuft von Juni bis Oktober die Ausstellung externe Seite "Architecture and Energy", die das Bauen in Zeiten des Klimawandels breit behandelt. Die Professur für Architektur und Gebäudesysteme von Arno Schlüter zeigt im Abschnitt zur Lehre Studierendenarbeiten der Entwurfsstudios aus dem Master Architektur und dem Master of Integrated Building Systems. Die Projekte zeugen von einem gründlichen Verständnis für Klima- und Energiefragen und übersetzen dieses in architektonische und städtebauliche Konzepte.
